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Wir sind wieder wer! in Karlsruhe

Samstag, 01. Dezember 1990 20:00 Uhr

Von bundesdeutschen Träumen und Wirklichkeiten. - Ein kritisch-musikalischer Kommentar zu rund 40 Jahren Bundesrepublik - vergnüglich, polemisch, nachdenklich und ketzerisch.

Als am 9. November 1989 die Mauer zwischen Ost- und West-Berlin brüchig zu werden begann und sich Ossis und Wessis freudetrunken in den Armen lagen, brodelte das Herzblut unserer Landsleute wieder einmal großdeutsch. Mit Tränen in den Augen stammelten sie zuerst etwas von Heimat, um schließlich im Chor "Deutschland einig Vaterland" zu brüllen.

Anstatt den Kopf zu gebrauchen und auf politische Phantasie zu setzen, wird mit dem Bauch gedacht. Wurde nicht schon einmal, 1949, die Chance eines grundsätzlichen Neuanfangs in "West-Deutschland" verpaßt? Auch 40 Jahre später fällt den meisten hierzulande für die DDR nur der Weg in den Schoß der Deutschen Bank ein.

Der nationale Taumel macht aus so manchem Kritiker der hiesigen Verhältnisse einen patriotischen Hanswurst.

Nach 1945 sah es wenigstens für einen kurzen historischen Augenblick so aus, als wollten die Westdeutschen aus zwei angezettelten Weltkriegen lernen. Daraus wurde nicht viel.

Schon 1956 wanderten Kommunisten im angeblich freiheitlichsten Staat auf deutschem Boden erneut ins Gefängnis. Von 1972 an erhielten Tausende Berufsverbot.

Und heute? Als die rebellierenden DDR-Bürgerinnen "Wir sind ein Volk" riefen und die SED-Stalinistensich dem Druck der Straße beugen mußten, applaudierten sie alle: die Schmidts und Schönhubers, Frau Müller und Herr Maier. Dieselben, die nach Polizei, Gefängnis und schon mal nach Arbeitslager schreien, wenn Bundesbürgerinnen ihr Recht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit wahrnehmen.

Über der täglich-akribischen Ost-Gucke wird zunehmend auch die bundesrepublikanische Wirklichkeit übersehen. Nach 40 Jahren freier und parlamentarischer Marktwirtschaft wäre es jedoch Zeit, kritische Bilanz zu ziehen.

Bevor uns Mauerparties und gesamtdeutsche Gefühlsduselei völlig das Hirn vernebeln, bietet der Ernst-Bloch-Chor an: eineinhalb Stunden Nachdenkliches zu rund 40 Jahren BRD. Zeit auch zum Lächeln, Lachen, Schmunzeln. Was noch? Zwischen Träumen, Wirklichkeit, Vergessen und Verdrängen sei an Wolf Biermanns trotzige Ballade erinnert: "Das kann doch nicht alles gewesen sein!" Denn "das äußerst Mögliche ist nur vorstellbar durch das Greifen nach dem Unmöglichen (...) Das objektiv Unmögliche wollen, bedeutet nicht sinnlose Phantasterei und Verblendung, sondern praktische Politik im tiefsten Sinne." (Karl Liebknecht)

Musikalische Leitung: Anne Tübinger


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