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Konzept, Lieder und Textauswahl

Musikalischer Stadtspaziergang zu 100 Jahren Frauenwahlrecht und 70 Jahren Grundgesetz am 1. Juli 2019:

Menschenrechte haben kein Geschlecht

© Bea Dörr, baf e.V.

Station I: Platz vor der Burse

Frauenwahlrecht – Frauenwahlrecht allgemein

Vor gut 100 Jahren, im November 1918, war es endlich so weit: Frauen durften wählen und gewählt werden. Lange hatten Frauen für ihr Wahlrecht gekämpft und immer wieder Niederlagen eingesteckt. Die Vorbehalte gegen das Frauenstimmrecht waren groß. Für viele Männer (und manche Frauen) gehörten Frauen nicht in die Politik: "Was wir nicht wollen und niemals – auch nicht in noch so fernen Jahrhunderten – wünschen und bezwecken, ist die politische Emanzipation und Gleichberechtigung der Frauen." (Adolf Lette, Sozialpolitiker und Jurist, 1866)

Aber seit 1849 gab es in Deutschland und anderswo mutige Pionierinnen für das Frauenstimmrecht. Einige von ihnen kommen heute zu Wort.

Lied: Opens internal link in current windowWe can create another world
„Ich fordere, dass Frauen bei denjenigen Gesetzen, welche sie selbst betreffen, eine Stimme haben. Ich fordere diese Stimme für sie auch da, wo es gilt, Vertreter des ganzen Volkes zu wählen – denn wir Frauen sind ein Teil dieses Volkes.“ (Louise Otto-Peters 1849 in der von ihr gegründeten ersten deutschen Frauenzeitung)
„Wären Gesetze wie die über das Vermögensrecht der Frauen, über ihre Rechte an den Kindern, Ehe, Scheidungen usw. denkbar in einem Lande, wo die Frauen das Stimmrecht ausüben? (...) Es gibt keine Freiheit der Männer, wenn es nicht eine Freiheit der Frauen gibt. Für mich liegt der Anfang allen wahren Fortschritts auf dem Gebiet der Frauenfrage im Stimmrecht der Frauen.“ (Hedwig Dohm, Berliner Kämpferin für das Frauenwahlrecht, 1873)
"Es ist unsere Pflicht, die Welt zu einem besseren Platz für Frauen zu machen!" (Christabel Pankhurst, britische Suffragette, 1909 auf einer Demonstration für das Frauenwahlrecht)

Frauenwahlrecht in Tübingen

Am 12. November 1918 erlässt die provisorische Revolutionsregierung das direkte, gleiche, geheime, allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen ab 20 Jahren – der Beginn der ersten deutschen Demokratie. SPD, Evang. Frauenbund und die Deutsche Demokrat. Partei (DDP) halten Frauenversammlungen ab und rufen dazu auf, zur Wahl zu gehen. Der „Frauenwahlausschuss“ schaltet im Dezember 1918 eine große Anzeige in der Tübinger Chronik:

"Was wollen wir Frauen?
Wir wollen den Frieden, wir wollen ausreichende Ernährung, wir wollen andere Erwerbsverhältnisse, den Wiederaufbau von Handel und Industrie, damit Arbeiter und Arbeiterinnen ihr Brot finden können und nie wieder mit dem versorgt werden müssen, was nötig ist (...).
Was sollen wir Frauen?
Von unserem Wahlrecht Gebrauch machen, wir haben <nach den vielen Kriegstoten> soviel mehr Stimmen wie die Männer, daß wir den Ausschlag geben können. Wir müssen die baldige Einberufung der Nationalversammlung fordern, denn die Feinde wollen nur mit einer <demokratischen> (…) Regierung Frieden machen und Nahrungsmittel liefern. (...) Darum unterschreibt unseren Aufruf (...) und kommt zum Meinungsaustausch in die Versammlung nächsten Sonntag nachmittags 4 Uhr in den Löwensaal."

Die ersten Wahlen mit Beteiligung von Männern und Frauen finden in Baden und Württemberg Anfang Januar 1919 statt In Scharen ziehen Frauen in die Wahllokale und bei jeder dieser Wahlen liegt die Wahlbeteiligung bei über 80 % – bei Männern und Frauen!

Um die gleiche Zeit streiten auch in Großbritannien Frauen leidenschaftlich für das Wahlrecht. Von der Suffragette Ethel Smyth stammt der „March oft he Women“.

Bei den Kommunalwahlen 1919 kommen 26 Männer und zwei Frauen in den Gemeinderat: Thekla Waitz (1862-1952) als erste Gemeinderätin in Tübingen, und Elisabeth Landerer.
Thekla Waitz war u.a. 1903 Mitbegründerin der Tübinger „Volksbibliothek“, ab 1905 in der Bursagasse 2 – dem Ort des heutigen Opens external link in new windowFrauenbuchladens Thalestris!

Lied: Opens internal link in current windowUtopia

II. Holzmarkt: Ort der öffentlichen Meinungsbekundung (auch) von Frauen

Lied: Opens internal link in current windowGrundrechte II 

70 Jahre Grundgesetz und die "Mutter der Gleichberechtigung" Elisabeth Selbert

Nur gegen hohe Widerstände schaffte sie es 1949, dass der Satz "Männer und Frauen sind gleichberechtigt." in das Grundgesetzt kommt. Erst acht Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes verabschiedet der Bundestag 1957 das sog. "Gleichberechtigungsgesetz". Es ist seinen Namen freilich nicht wert: Immer noch haben Väter das letzte Wort in der Kindererziehung und immer noch dürfen verheiratete Frauen nur mit Zustimmung ihre Ehemannes erwerbstätig sein.

Lieder: Opens internal link in current windowIch und du, Opens internal link in current windowLeben einzeln und frei

Holzmarkt und Marktplatz

spielen in der Tübinger Geschichte der Gleichberechtigung eine wichtige Rolle als Orte von Demonstrationen, Kundgebungen und Straßenaktionen:

  • 1971 Erste Tübinger Demonstration für Frauenrechte (Abschaffung des § 218 und die „Befreiung der Frau“)
  • 1972 erstmals ein selbst verfasstes Frauentheaterstück
  • immer wieder autonomes Frauentheater zu brisanten politischen Themen
  • ab den 1980er Jahren: Walpurgisnacht-Demos
  • 1991 FrauenStreikAktion gegen den 1. Golfkrieg

Lied: Opens internal link in current windowUnter dem Pflaster ja da liegt der Strand

III. Marktplatz mit dem Rathaus: Zentrum der Tübinger Politik und Ort einer frühen Revolutionärin

Marie Kurz geb. v. Brunnow (1826–1911): Eine der ersten Tübinger Demokratinnen und Pazifistinnen wirkte in ihrem Haus am Marktplatz, genannt "Violette Republik".

Lied: Opens internal link in current windowEine gute Sache

Vor 100 Jahren – Frauen in der (Kommunal)Politik

1919 ziehen zwar Frauen in Parlamente ein, ihr Anteil wird jedoch bald immer kleiner. Das endlich eroberte Wahlrecht brachte keineswegs die erhoffte gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Politik und Gesellschaft.

Eingespieltes Lied: Claire Waldoff - Initiates file downloadRaus mit den Männern ausm Reichstag.mp3 (rauschreduziert. Etwas langsamer 90% Tempo: Initiates file downloadhier)
Aufnahme 29.6.1926. Berlin. Aus der Revue 'Von Mund zu Mund'.

1933 wir das passwive Wahlrecht für Frauen wieder abgeschafft und die Demokratie ist zu Ende.

Else Berkmann geb. Schlüter (1904-2001), vor der Nazizeit bereits Abgeordnete der Hamburger Bürgerschaft, setzt sich nach 1945 in der französichen Zone für den Wiederaufbau des politischen Lebens ein. Sie wird zur Wegbereiterin der politischen Partizipation von Frauen in Tübingen. 1951 gründet sie die überparteiliche „Arbeitsgemeinschaft Tübinger Staatsbürgerinnen“ und bietet "Staatsbürgerinnenkurse" an: mit Rhetorik oder dem "Einmaleins der Staatsbürgerkunde". Unter den zeitweise über 60 Teilnehmerinnen der Kurse sind auch zwei spätere Gemeinderätinnen: Hedwig Rieth & Maria Ohlmeyer. 1960 wird Else Berkmann in den Landtag gewählt.

Lied: Opens internal link in current windowSong vom besseren Leben

Frauen in der Kommunalpolitik nach 1980

1971 sucht die Tübinger CDU eine Vorzeigekandidatin für die Kommunalwahlen. Karl Schweizerhof: „Frau Hämmerle, mir brauchet no a Weib. Schwätze brauchet Se net!“.
Alma Hämmerle geb. Dominik (1924-2016) schwätzt doch. Sie wird 1974 in den Kreistag gewählt, wo sie die Männer mit kreativen sozialpolitischen Vorschlägen überrascht. 1976 erlangt sie ein Mandat im Tübinger Gemeinderat und wird 1989 Stimmenkönigin. 1987 gelingt ihr der Coup, mit den wenigen anderen Frauen gegen die Stimmen der Männer die Kandidatin Edda Rosenfeld als Frauenbeauftragte durchzusetzen. Die Männer der CDU tobten, der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende legte sein Amt nieder.

Mit dem Aufkommen von Alternativer und grüner Liste gibt es in den 1980er Jahren einen Quantensprung bei der Zahl von Frauen im Gemeinderat und bei den Politikthemen.

1990 wird erstmals eine Frau zur Bürgermeisterin in Tübingen gewählt – in mehrfacher Hinsicht eine kleine Revolution: Gabriele Steffen. „Ein UFW-Stadtrat hat [im Ratssaal] die Füße auf den Tisch gelegt, als ich zum ersten Mal eine Gemeinderatsitzung geleitet habe. Das ist ja schon eine machtvolle Position. Der hat das einfach nicht ausgehalten.“

1999 hat Tübingen mit Brigitte Russ-Scherer die erste Frau zur Oberbürgermeisterin gewählt.

IV. Platz an der Jakobuskirche

Was erreicht wurde und was noch aussteht

Lied Opens internal link in current windowWir können den Wind nicht ändern

Vieles wurde bislang erreicht: Die Zahl der Frauen, die in der Politik mitmischen, steigt trotz vieler Hindernisse. In Tübingen wurde bei den Kommunalwahlen im Mai 2019 eine junge, türkischstämmige Feministin Stimmenkönigin. Der neue Gemeinderat wird aus 50% Frauen und 50% Männern bestehen.

An vorderster Stelle von "Fridays for Future" engagieren sich Mädchen und junge Frauen. Sie zeigen Flagge, argumentieren klug und stellen die Systemfrage.

Seit 100 Jahre dürfen Frauen wählen. Ihre Beteiligung an Wahlen ist heute praktisch genauso hoch wie die von Männern. Und: Frauen wählen weniger konservative oder rechtspopulistische Parteien.
Seit 70 Jahren sind Frauen formal gleichberechtigt. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten kämpfte ein breites Bündnis für mehr Rechte für Frauen und andere benachteiligte Gruppen im Grundgesetz. Trotz vieler Widerstände wurde 1994 der Grundgesetz-Artikel 3, Absatz 2 ergänzt: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Die Umsetzung der Gleichberechtigung ist also seit 25 Jahren Staatsziel.

Der ersten Frauenbewegung verdanken wir das Frauenwahlrecht und mehr Bildungschancen für Mädchen und Frauen. Die zweite Frauenbewegung deckt seit den 1970er Jahren auf, dass viele Frauen im Privatbereich Gewalt erleben. Mit großem Einsatz gründen sie Frauenhäuser, Beratungsstellen und Notrufe. Zusammen mit Politikerinnen aller Parteien im Bundestag sorgten Aktivistinnen dafür, dass Vergewaltigung in der Ehe endlich strafbar ist und Gewalttäter der Wohnung verwiesen werden können. Auch der Skandal „sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Jungen“ wurde von frauenbewegten Aktivistinnen publik gemacht.
Frauen haben heute mehr berufliche und private Möglichkeiten und Chancen als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. Das alles fiel nicht vom Himmel, sondern wurde erkämpft.

Lied: Opens internal link in current windowSteter Tropfen

... und was bleibt heute noch zu tun?

Im Jahr 2019 sitzen im Bundestag deutlich weniger Frauen als z.B. im äthiopischen Parlament. 22 Gemeinden in Baden-Württemberg haben noch immer einen Gemeinderat ohne eine einzige Frau. Keine 10 Prozent der Rathäuser werden von Bürgermeisterinnen oder Oberbürgermeisterinnen geführt. Der Stuttgarter Landtag ist bundesweit Schlusslicht beim Anteil weiblicher Abgeordneter. In anderen Staaten wie Frankreich, Spanien oder Irland existieren Paritätsgesetze, um mehr Beteiligung von Frauen sicherzustellen. Wir brauchen das auch.

Die wirtschaftliche Macht liegt nach wie vor in Männerhänden – auch in Tübingen: Uni-Klinik, Stadtwerke, Sparkassen und Banken sind in den oberen Etagen weitgehend frauenfrei. Erwerbstätige Frauen verdienen im Schnitt 21% weniger als Männer. Altersarmut ist weiblich. Immer noch sind Berufe, in denen sich vor allem Frauen finden, schlechter bezahlt.

Die Vision des Feminismus ist nicht eine ‚weibliche‘ Zukunft. Es ist eine menschliche Zukunft.
Ohne Rollenzwänge, ohne Rassismus und Gewaltverhältnisse, ohne Weiblichkeitswahn und Männerbündelei.

Denn: „Menschenrechte haben (keine Hautfarbe und) kein Geschlecht.“

Lied: Opens internal link in current windowGemeinsam – Vergesst nicht Freunde
Zugabe: Opens internal link in current windowWann, wenn nicht jetzt