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es ist alles so wunderbar

Plakat: Mauer mit Graffitti
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Titel des Programmheftes
Titel des Programmheftes

lieder aus fünf jahrhunderten

Konzertprogramm 1988-1989

Die Morgenfrühe ist nicht unsere Zeit

"Bei uns, ihr versteht, wird nicht viel gesungen." Das ist wahr. Das unübersehbare Mißtrauen gegenüber jenen altbekannten Liedern hat seinen guten Grund. Zu gründlich hatte die nationalsozialistische Kulturpolitik sich der gemeinschaftsbildenden Kraft des Liedes bedient, hatte die Reihen fest sich schließen und die morschen Knochen erzittern lassen und das deutsche Liedgut, sofern es nicht offensichtlich auf jüdische Verfasser oder demokratisches Gedankengut zurückging, sich gründlich anverwandelt — und damit Volk und Lied gleichermaßen in Mißkredit gebracht. "Die Ranner wehen, die Trommeln dröhnen, die Pfeifen jubilieren, und aus Millionen Kehlen klingt es auf,
das Lied der deutschen Revolution: 'Die Fahne hoch!'" (Karl Rehberg 1942)

Im schönsten Wiesengrunde singt der Gesangsverein

Bereitwillig überließen wir daher dieses zweifelhafte Erbe den Heinos und Gotthilfs, den Westfälischen Nachtigallen, Tölzer Knaben und Männergesangsvereinen, die auszogen, uns das Flüchten zu lehren. Da "klappern die Mühlen, reitet ein Jäger durch Kurpfalz, steht ein Brunnen vor dem Tore", und immer "geht es um die Sehnsüchte, die wir alle in uns tragen und die man nicht oft genug beim Namen nennen kann, gerade in unserer Zeit, die so unerbittlich kalt und hart geworden ist." (Gotthilf Fischer 1978)

Bin kein kleines Waldvögelein, tirili

Mit kaum geringerem Mißtrauen, seien wir ehrlich, begegneten wir den Fidel Michels, den Liederjans, den Elster Silberflügen, die, indiengewandet, Drehleier und Laute im Anschlag, Blumelein am Häuptelein, Schellelein am Fesselein, alternativ und tandaradei von Deutsch-Folk-Bühne zu Deutsch-Folk-Bühne schwebten. "Schweig still, schweig still, und laß deine Fragen sein!" (Alraune 1976)

Nebel und Aufklärung

Nicht wenige von der Studentenbewegung und ihren Nachwehen Bewegte machten sich aber daran, dieses musikalische Erbe zu sichten. Nicht Lieder für das Volk, die alltägliche Wirklichkeit überschönen oder kompensieren, sondern solche aus dem Volk, die reale Lebensbedingungen kritisch reflektieren oder transzendieren, bildeten das Programm etwa von Zupfgeigenhansel; Steinilz' Liedersammlung kam zu spätem Ruhm, und demokratische Volkslieder, um- oder fortgedichtet, gehörten zum Repertoire alternativer Liedermacher. Aus dem breiten Spektrum überlieferten Liedgutes solche Chorwerke aufzugreifen, die Sorgen und Nöte, Hoffnungen und Utopien der Betroffenen beim Namen nennen, ist schließlich auch der Anspruch des Ernst-Bloch-Chores.

Ernst Bloch und Musik

Den Namen eines der größten deutschen Philosophen dieses Jahrhunderts auf unsere Fahnen zu schreiben, schien vielen von uns als zu großartiger Anspruch - und große Bürde zugleich -, als wir vor mehr als einem Jahr miteinander zu arbeiten begannen. Warum nicht der Name einer Frau? Warum nicht etwas Alltägliches, weniger Programmatisches?
Was wußten denn wir von diesem Philosophen? Marxist, Verfechter der Utopie, des aufrechten Ganges, des Prinzips Hoffnung; geflohen vor den Nazis, den Schikanen der DDR-Bürokratie entwichen; intensive Beziehung zur Musik, insbesondere zur klassischen - genug, um sich auf ihn zu berufen?

Musik ist für Bloch das Utopikum schlechthin, die utopischste der Künste, weil sie formuliert und affektiv erfahrbar macht, was politisch noch kaum gedacht werden kann. "Der Ton spricht zugleich aus, was im Menschen selber noch stumm ist" (PH 1244)*. Musik hat eine sehnende Ahnung des Unaussprechbaren. Dabei ist das musikalische Reich der Wunschinhalte nicht unbedingt, vielmehr fabeln hier wie stets Momente des Gegebenen über die Stränge. Es "ist die Gefühls- und Zielwelt der jeweils herrschenden Klasse, die in Musik sich jeweils expressiv macht. Wobei die Musik kraft ihrer so unmittelbar menschlichen Ausdrucksfähigkeit zugleich mehr als andere Künste die Eigenschaft hat, das zahlreiche Leid, die Wünsche und Lichtpunkte der unterdrückten Klasse aufzunehmen. Und keine Kunst hat wieder so viel Überschuß über die jeweilige Zeit und Ideologie, worin sie steht, einen Überschuß freilich, der erst recht die menschliche Schicht nicht verläßt." (PH 1249)*

Es ist alles so wunderbar

Annäherungen, nicht allein in Bezug auf 'unseren' Philosophen, sondern auch in Bezug auf die Entfaltung eines uns gemäßen Arbeitsstils, erbrachte das erste Jahr unserer Chorarbeit. Nicht nur die Kriterien der Liedauswahl bedurften der Diskussion, sondern ebenso die Präsentationsform und die Qualitätsansprüche an den Vortrag, das
Spannungsfeld zwischen Heiterkeit und Disziplin, zwischen Musiker/inne/n und Laien, zwischen Sangesfreude und Politik.

Ein Programm mit Liedern aus fünf Jahrhunderten, die sich der Hoffnung verschrieben
haben und diesem Prinzip jeweils zeitbedingt Ausdruck verleihen, stellt ein erstes Ergebnis
dieser Annäherungsprozesse dar.

Geboren aus der Not sind sieben Lieder, die Krieg und soziales Elend widerspiegeln. Als Kleine Fluchten stellen wir in sechs Liedern das kleine Glück im Hier und Jetzt vor, in dessen Erfüllung stets ein ungestillter Rest bleibt, der aufs Ganze zielt. Stark im Ducken ist eine Zusammenstellung aus sechs Liedern, die mit satirischer Überhöhung oder parodistischer Sachbeschädigung gegen herrschenden Ordnungs- und Untertanengeist angehen. Wider den Stachel besingt abschließend in fünf Liedern den Geist des Widerstandes.

Was uns diese Lieder singens- und hörenswert macht, ist der in ihnen erhobene und bis heute nicht eingelöste Anspruch auf ein menschliches Dasein, angesichts dessen wir uns - immer noch - erst am Vorabend einer beginnenden Menschheitsgeschichte befinden. So kommt das zu seinem Ausdruck, was Bloch als Vorscheincharakter der Kunst und insbesondere der Musik bezeichnet.

Mancher mag sich in der schlechten Wirklichkeit einnisten und, den hoffnungsschwangeren Bloch auf dem Nachttisch, das hoffnungsfrohe Lied auf den Lippen, utopischen Vorschein als Trost und Beruhigung konsumieren. Diese Haltung hoffen wir nicht zu unterstützen, wohl wissend, daß die Weltgeschichte in ihrem Prozeß hin zum Alles oder auch zum Nichts durch das tätige Eingreifen der Menschen bestimmt wird. Wenn der Prozeß einer humanen Weltveränderung durch unsere Musik vorankommt und beflügelt wird, können wir uns mit Fug und Recht 'Ernst-Bloch-Chor' nennen.

* zitiert nach: Ernst Block, Das Prinzip Hoffnung Bd.3

Das Programm: es ist alles so wunderbar

Grafik zu Geboren aus der Not1. Geboren aus der Not

Deutsches Miserere (Brecht/Eisler)
Die erfrorenen Soldaten (Kraus/Eisler)
Brot für die Welt (Fortschrott)
Quand mon mari vient de dehors (Lassus)
Reklame (Bachmann/Tübinger)
Dire gelt (anonym um 1900/Satz: Tübinger)
Der Bauernhimmel (Schlesien um 1750/Satz: Tübinger)

2. Kleine Fluchten

Come again (Dowland)
Lachrimae Pavan (Dowland)
Amor vittorioso (anonym 1591/Gastoldi)
Tourdion (Allaignant)
El grillo (Desprez)
II est bel et bon (Passereau)
Horch, wer tritt die Türe ein (Fortschrott)

3. Stark im DuckenGrafik zu Stark im Ducken

Warnung (Haydn)
Nein, es ist nicht auszukommen (Daumer/Brahrns)
Ruhe und Ordnung (Tucholsky)
Der Untertan (Glassbrenner/Fladt)
Von nichts kommt nichts (Rohwer/Tübinger)
Der Sucher (Tucholsky/Seidl)
Song von der Bürgertugend (Bellman/Tübinger)

Grafik zu Wider den Stachel4. Wider den Stachel

Es ist ein Schnitter (Flugblatt 1638/Satz: Brahms)
Shtil, die Nacht (Glik/Satz: Tübinger)
Sog nischt kejnmol (Glik/Pokrass/Satz: Tübinger)
Ballade von den Säckeschmeißern (Arent/Eisler/Fladt)
Es ist alles so wunderbar (Fortschrott)

Pressestimmen

"Respekt, in noch wenig beackerte chorische und literarische Gebiete vorstoßen und gar mit Ingeborg Bachmanns „Reklame“ (in der Fassung von Anne Tübinger) das Melodram neu beleben zu wollen. Trotz des kunterbunt zusammengewürfelten Programms ist ein Kompliment fällig für das Aufspüren unbekannter alter Texte [...] Ein Kompliment auch für die instrumentalen Arrangements [...]. Seien noch zwei köstlich-witzige Persiflagen über gängige deutsche volkstümliche Lieder erwähnt: „Horch wer tritt die Türe ein“ und „Es ist alles so wunderbar“ von den norddeutschen Liedermachern [...] „Fortschrott“. Zur Interpretationsqualität sei jetzt nur angemerkt, daß dem rund 50köpfigen Ensemble manches recht gut gelang, einiges weniger, noch unsicher. [...] die [Zuhörer] geizten nicht mit Beifallsbekundungen [...]"

Werner Zintgraf in Opens external link in current windowEin „alternatives“ Chorkonzert-Programm, April 1988

"[...] hier Analyse und Bildkraft des Tübinger Philosophen, dort strukturelle und folkloristisch-farbige Komponisten. [...] Der Chor unter der Leitung von Anne Tübinger hatte ein heikles Problem erfolgreich angefaßt. Der knapp zweistündige Balanceakt zwischen purer Sing-Lust und Qualitätsanspruch zog die Hörer mit.[...] Fetziges Eisler-Marschieren, Bauernhimmel contra Kyrie-Eleison, [...] - die Chöre kamen explosiv, dynamische Überraschungen konterten die inhaltlichen. [...] für einen Laienchor, der erst ein Jahr zusammenarbeitet, ist solch quirlige Bewältigung [...] polyphonen Schlangenlinien und Taktwechseln [...] ganz und gar nicht selbstverständlich. [...]"

„opa“ in Opens external link in current windowStimulans für den Tanz, Schwäbisches Tagblatt 28.04.1988